Projektentwicklung Kenia 2016/2017

von Caroline Seidel

Als ich in mein Zimmer zurückkomme, finde ich meine Kleidung und Gepäck über das ganze Zimmer verstreut, die Reisetasche auf dem Boden. Aus der Tasche strahlt mich über beide Ohren Nahson an und sagt: „I am done packing, we can go“ (dt. Ich bin fertig mit packen, wir können jetzt gehen). Dieses Ereignis fasst mein sieben-monatiges Kenia-Chaos-Abenteuer wohl am besten zusammen – ein permanenter Zustand zwischen völligem Chaos, Überraschung, großer Liebe und grenzenloser Freude!

Bei meiner Ankunft im November 2016 in Kenia, hatte ich nicht im Geringsten eine Ahnung, was die nächsten Wochen und Monate auf mich zukommen würde. Nichts würde so klappen wie wir es im Vorfeld geplant hatten und alles sowieso viel komplizierter werden. Hinzu kamen Wetterchaos und permanente Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichsten Behörden.

Am 4. November erreichte ich Kenia und gönnte mir in Nairobi noch ein paar ruhige Tage, nachdem ich in Deutschland vor meiner Abreise noch „zwischen Tür und Flugzeug“ mein Studium beendet hatte und aus meiner Wohnung ausgezogen war. Als ich dann jedoch in Iruma ankam, einem kleinen ruralen Dorf in der Nähe von Chogoria und etwa 5 Stunden von Nairobi entfernt, war es vorbei mit der Ruhe. Schon bei meiner Ankunft war klar: die nächsten Monate würden anstrengend werden. Die Jungs hatte ich jahrelang nicht gesehen und aus den „Kleinen“ waren inzwischen pubertierende junge Männer geworden. Kennengelernt habe ich sie bei meinem ersten Aufenthalt im Februar 2012, erneut besuchte ich sie über Weihnachten 2013 und verantwortlich war ich für das Projekt die letzten Jahre nicht – kurz: es war, als würde man sich völlig neu kennenlernen. Nicht nur die Kinder hatten sich sehr verändert, sondern auch das ganze Dorf. Um das Heim herum waren viele Häuser gebaut worden und es gab einige neue Läden.

In den letzten Jahren war es uns gelungen, die Situation für die Jungs in einiger Hinsicht zu verbessern. Wir haben es geschafft, den Wohnraum der Kinder zu erweitern, sodass sie mehr Platz hatten. Aus dem neuen Haus mussten Sie jedoch Anfang 2016 ausziehen und wohnten fortan wieder zusammen in einem kleinen. Durch den Zuwachs an Jungen verschlechterten sich die Lebensbedingungen daher schlagartig. Ich war schockiert von der Lage vor Ort. Beide Seiten waren erst einmal etwas vorsichtig, was das Kennenlernen anging. Da ich die ersten Tage ohnehin mit der Koordination des Baus beschäftigt war und unzählige Treffen und Besprechungen mit unserem Projektpartner, Anwälten und dem Architekten hatte, schob ich dies erst mal vor mir her. Am Wochenende jedoch schlug ich den Jungs, die Ferien hatten, einen längeren Ausflug vor. In der Vergangenheit hatten wir so etwas häufiger gemacht und ich hoffte, so wieder an alte Gemeinsamkeiten anknüpfen zu können.

Zunächst wollten nur elf der 38 Jungs mit, was mich zugegeben etwas enttäuschte. Eine Stunde sind wir Berge hoch und Täler runter gelaufen. Es war unfassbar anstrengend. Aber die Jungs wurden langsam warm und quatschten auch ein bisschen Englisch mit mir. Als wir an einem riesigen Steinbruch ankamen, nutze ich die Gunst der Situation kurz durchzuatmen, während sich die Kleinen neugierig umschauten. Als wir dort standen kam eine große Gruppe Jungs auf uns zu gerannt: es waren die ganzen restlichen Jungs, die zunächst nicht mitgekommen waren. Ich war ziemlich verwundert, habe mich aber unglaublich gefreut. Sie waren eine Abkürzung gerannt nur um uns zu finden. Als riesen Gruppe gingen wir dann zusammen weiter bis zu einem Wasserfall. Es war ein großartiger Ausflug. An den schwierigen Stellen halfen sie mir und rollten extra Steine ins Wasser, damit ich den Fluss überqueren konnte. Der Jüngste der Gruppe, der die ganze Zeit vor mir lief, drehte sich alle zwei Meter um, um nachzusehen, ob ich zurechtkomme. Wir haben viel redet und gelacht und hatten alle großen Spaß! Ich spürte zwar jeden einzelnen Muskel, da wir insgesamt sechs Stunden querfeldein unterwegs gewesen waren, aber ich glaube, es war genau das was wir gebraucht hatten um endlich wieder zueinander zu finden: „Teambuilding kenianischer Art“ quasi.

Schon nach der ersten Woche vor Ort wurde klar, dass wir unseren angesetzten Terminplan niemals erfüllen würden – dass sich die Bauzeit jedoch verdoppeln sollte, hätte zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnen können. Auch zeichneten sich schon zu Beginn erste Komplikationen mit unserem Projektpartner Benedict ab.

Der Vertrag mit dem Architekten wurde in der zweiten Woche abgeschlossen und der Bau gleichzeitig noch einmal 10.000 Euro teurer als ursprünglich geplant. Ein großes Problem war der Landbesitzer, der zum einen ständig betrunken und zudem nie zu erreichen war. Die Formalien waren im Vorfeld zwar geklärt worden, vor Ort sah ich mich jedoch mit unzähligen Problemen konfrontiert. Ohne Unterschrift und den Dokumenten konnten wir nicht mit dem Bau beginnen. Doch nicht nur die Menschen hier sind unberechenbar, sondern auch das Wetter und das Internet. An manchen Tagen regnet es stundenlang, dann ist es super kalt, alles ist matschig und die „Straßen“ fast nicht passierbar. Ich stapfte dann mit Gummistiefeln und Regenjacke durch den Urwald – drei Minuten später war es so heiß, dass man fast einging. Ich hatte zig Sonnenbrände während meines Aufenthalts. In Kenia muss Frau immer für alles gewappnet sein.

Am 22. November konnten wir dann unseren ersten Etappensieg feiern – nach tagelangen Auseinandersetzungen mit dem Landbesitzer und unzähligen Unterredungen mit dem Architekten wurde der Grundstein für unser neues Waisenhaus endlich gelegt. Es hatte die ganze Zeit über geregnet, aber es war ein prächtiger Tag. Unsere Jungs hatte ich so noch nie gesehen. Nach der Grundsteinlegung feierten wir unsere große Geburtstagsparty. Einige der Kids wissen gar nicht wann sie Geburtstag haben, daher nahmen wir die Grundsteinlegung als Anlass einmal ausgiebig zusammen zu feiern. Wir hatten eine spitzen Fete, tanzten stundenlang und hatten viel Spaß.

Ansonsten musste ich täglich viel Papierkram erledigen und auch die Kurztrips nach Nairobi, um mit unserer Anwältin die nächsten Schritte durchzusprechen, boten keine Gelegenheit zum Verschnaufen. Ein großes Problem war und ist der permanente Geldmangel und ein mangelndes Verständnis für grundlegende Körperhygiene. Die meisten Jungs hatten so schlechte Zähne, dass nur noch die Zange Abhilfe schaffen konnte. Die fauligen Zähne zeigte ich immer der Gruppe – eine richtige Schock-Therapie, die jedoch ihre Wirkung nicht verfehlte. Alle Jungs gewöhnten sich langsam das zweimalige Zähneputzen an! Die Bindung zu meinem Chaotenhaufen wurde auch täglich enger. Wir legten zusammen ein Volleyballfeld an, rackerten uns in unserem Garten ab und spielten täglich unzählige Partien Fuß- und Volleyball. An den Wochenenden unternahmen wir so oft wie möglich Ausflüge und meine Kondition wurde mit der Zeit auch immer besser. Ich wurde ständig umarmt und es war ein richtig schönes Gefühl täglich zu ihnen durch den Matsch zu stapfen und von strahlenden Gesichtern empfangen zu werden!

Die Kirche bereitete uns seit Beginn des Projektes große Sorgen und Probleme. Der Gipfel war als mich der verantwortliche Priester der Gegend völlig betrunken vor der Kirche anschrie. Er meinte, er würde nur warten, dass wir einen Fehler machen, kümmere sich darum, dass unser Projekt scheiterte und zeige unseren Projektpartner an .... Es war richtig schlimm. Zugleich waren auch ein paar Leute anwesend, die die Szene verfolgten und sich alle unglaublich schämten, jedoch nicht in das Geschehen eingriffen. Der Konflikt entstand, da wir uns im Vorfeld gegen eine direkte Zusammenarbeit mit der Kirche entschieden hatten: „Ihr bekommt keine Hilfe solange ihr nicht mit uns arbeitet“. Daher war es uns von da an umso wichtiger, dass die Dorfverantwortlichen auf unserer Seite waren.

Das erste offizielle Treffen mit der Gemeinde war ein großer Erfolg! Unser Ziel war es von Beginn an die Menschen in das Projekt mit einzubeziehen. Wir gründeten daher einen Trägerverein vor Ort (Community Based Organisation – CBO) und ließen die Gruppe zehn einflussreiche Männer und Frauen auszuwählen, die Teil der CBO wurden und besondere Positionen bekommen sollten. Die Kirche wurde dabei außenvorgelassen. Der Priester, der mich vor der Kirche blöd angemacht hatte, war zum Meeting eingeladen, erschien allerdings nicht. Die Auseinandersetzung hatte jedoch die Runde im Dorf gemacht und die Leute waren sehr verärgert darüber. Diese ganzen Kämpfe um Macht, Einfluss und Geld waren unglaublich ermüdend und anstrengend. Wir hatten aber zu diesem Zeitpunkt einen Großteil der Gemeinde auf unserer Seite und das war gut so. Unsere Anwältin hatte uns schon im Vorfeld strengstens abgeraten die Kirche einzubeziehen. Ihrer Erfahrung nach scheitern sämtliche NGO-Projekte, sobald die Kirche involviert ist. Sie führte schon zig Prozesse gegen Priester wegen Veruntreuung von Geldern. Vor zu großem Einfluss der Gemeinde warnte sie uns ebenfalls. Auch hier sollte sie Recht behalten.

Neben den Priestern hatten wir (mal wieder) Schwierigkeiten mit unserem Nachbarn. Der Mann, der uns das Land verkauft hatte, fällte scheinbar früh morgens Bäume auf unserem Land. Das komplette Gelände und die ganze Arbeit von einer Woche waren einfach kaputt. Später kam seine Schwester und schnitt Bananenstauden ab. Da es sich hierbei um Diebstahl handelte und eine Tolerierung dieses Verhaltens die Situation nur verschlimmert hätte, zogen wir die Polizei hinzu, die den Fall schließlich regelte.

Unsere Vorweihnachtszeit war insgesamt leider nicht so erfreulich. Das Heim, in dem die Jungs die letzten Jahre gelebt hatten, war nicht als solches registriert. Am 23. Dezember kam das „Jugendamt“ und veranlasste dessen sofortige Schließung. Da das Heim das einzige in der Gegend ist, auch wenn es nicht registriert und damit letztlich illegal war, war das Jugendamt bisher froh, dass die Kids irgendwie untergebracht waren. Vermutlich rief ein Kirchenvertreter das Amt schließlich an und machte so viel Druck, dass dieses umgehend handelte und die Einrichtung schloss.

Am selben Tag nach dem Meeting mit dem Jugendamt gaben wir den Kindern ihr Weihnachtsgeschenk: ein Rucksack mit Kleidung. Wir wiesen sie an, ihre persönlichen Gegenstände zusammenzupacken. Da sie im Prinzip nichts besaßen, ging das schnell. Vor allem unsere Jüngsten waren verängstigt aufgrund all der Personen und der Unruhe. Wir versuchten so viele Familienangehörige wie möglich zu erreichen, damit die Jungs abgeholt werden und bei diesen für einige Zeit wohnen konnten. Leider kam nur ein kleiner Teil der Angehörigen und ein noch kleinerer Teil war bereit, ihre Jungs mitzunehmen. Mit Erlaubnis der örtlichen Polizei brachten wir die Jungen bei verschiedenen Gemeindemitgliedern unter. Die Situation erinnerte sehr an die Weihnachtsgeschichte, als Maria und Josef von Haus zu Haus liefen und nach einem Schlafplatz fragten. Die ohnehin schon schwierige Wohnsituation zuvor wurde durch die Schließung des Heims nur verschlimmert.

Das Weihnachtsfest am 25. Dezember war dementsprechend nicht so ausgelassen wie in den letzten Wochen. Gemeinsam ein Essen zu teilen war jedoch wichtig und gut für den familiären Zusammenhalt. Auch Silvester und Neujahr verbrachten wir zusammen. In unterschiedlichen Häusern bzw. bei ihren Familienangehörigen lebten die Jungs bis Anfang Januar. Die Erfahrungen bei Tanten oder Großeltern waren fast durchgehend negativ. Es gab entweder zu wenig Essen, keinen richtigen Schlafplatz oder es kam zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Es gibt schließlich einen Grund weshalb die Jungs im Heim untergebracht sind und nicht in ihren Familien leben. Ich selbst wohnte in dieser Zeit mit unseren Jüngsten zusammen in einem Bretterverschlag ohne Wasser und nur einer kleinen Lichtquelle. Ich wurde sozusagen über Nacht Mutter von 8 Jungs, eine neue Situation für uns alle. Wir teilten uns drei Matratzen und der Raum war zwar unglaublich zugig und schmutzig, aber bis in den hintersten Winkel gefüllt mit Liebe! Bei gemeinsamen Mahlzeiten, dem Erledigen von Hausaufgaben, Gute-Nacht-Geschichten erzählen und Spielen wuchsen wir als kleine Familie eng zusammen. Eine spannende und wundervolle Erfahrung, die ich nicht missen möchte – auf die Ameisen und Bettwanzen hätte ich jedoch getrost verzichten können!

Für die Älteren mieteten wir drei kleine „Häuser“ an. Dies verstieß nicht gegen die Auflage des Jugendamtes, in der nur von den bisherigen Räumlichkeiten die Rede war. Während die Kleinen ihre Hausaufgaben erledigten, machten Benedict, unser Projektpartner und die Bezugsperson der Kinder, und ich die Runde. Wir besuchten unsere Größeren um sicherzustellen, dass es ihnen an nichts mangelte und es ihnen (den Umständen entsprechend) gut ging. Die gemeinsamen Abendessen bei Lagerfeuer mit den Großen hatten etwas Besonderes. In fast völliger Dunkelheit teilten wir unser einfaches Mahl, Geschichten und Träume.

Der Schulstart am 4. Januar brachte nach über zwei Monaten Ferien wieder Struktur in den Alltag der Jungs und entlastete Benedict und mich bezüglich der Fürsorge deutlich. Die Jungen waren fortan wieder von 6.30 bis 17.00 Uhr in der Schule, bekamen dort Mittagessen und waren beaufsichtigt. Die älteren Jungs haben abends noch „Selbststudium“ und kommen daher erst gegen 21:00 Uhr nach Hause. In den drei Häusern wurde demnach nur gegessen und geschlafen. Das größte Problem waren unzureichende Matratzen, enger Schlafraum, kein Wasseranschluss und in zwei der drei Häuser keine Elektrizität. Hausaufgaben wurden bei Kerzenschein erledigt.

Kenia war eine unglaubliche Herausforderung. Ich hatte zwischenzeitlich mehr Sorgenfalten, als dass ich lächeln konnte. Die Arbeiter waren (anfangs) faul und unzuverlässig, unser Architekt machte seinen Job oft unzureichend, Benedict schien ständig überfordert und das Geld reichte vorne und hinten nicht. Die Mentalität machte mir schwer zu schaffen, ich war müde und kaputt, die Verantwortung riesig. Natürlich hatten wir hier schon so viel geschafft, aber im Vergleich zu dem was vor uns lag, war das leider nicht viel. Rückblickend bin ich so dankbar für den großen Rückhalt und ständigen Zuspruch meines Teams Zuhause, unserer Berater aus Deutschland und Kenia und meines unglaublichen Freundeskreises, der mir unzählige wundervolle E-mails schickte. Der Bau war ein großes Wagnis gewesen, dessen Ausgang von Beginn an ungewiss war – zugleich aber auch die einzige Möglichkeit, um langfristig eine Änderung bewirken zu können. Ohne dieses Vertrauen und die tollen Mitstreiter vor Ort hätte es jedoch nie geklappt.

Seit Mitte Januar wurde auf der Baustelle nicht nur tagsüber (8.00 – 17.00 Uhr), sondern auch in der Nacht (21.00 – 4.00 Uhr) gearbeitet. Der Schulstart und eine neue Organisation der Schlafsituation gaben mir nun Zeit, mich nach knapp sechs Wochen mit unseren Jüngsten voll auf den Bau zu konzentrieren und die Bauleitung ab Februar zunächst für die Nachtschicht zu übernehmen. Da unser Architekt dann jedoch an Malaria erkrankte, übernahm ich schließlich zusammen mit unserem Vorarbeiter für den vollständigen Bau die Bauleitung und zog schließlich auf die Baustelle. So war ich immerhin morgens die erste auf dem Bau und nach einer langen Arbeitsschicht ist es einem dann auch egal wo man in den Schlafsack kriecht, denn dann zählt nur eins: Schlafen! Die Kleinen wurden von einem der älteren Jungs beaufsichtigt, was suboptimal war, sich jedoch in der Situation nicht ändern ließ. Unser Ziel, das Haus bis zum 14. Januar fertig zu bekommen, hatte aufgrund von Materialengpässen, Wetter, Schwierigkeiten mit den Arbeitern, etc. nicht geklappt. Es stellte sich heraus, dass weder die Kostenkalkulation, noch der Zeitrahmen für das Projekt richtig gesetzt waren.

Unser Architekt teilte mir schließlich Mitte Februar mit, dass er sich bei allen seinen Zulieferern verschuldet und verkalkuliert hatte und er erst dann wieder Material bekommen würde, wenn er diese Schulden bezahlt hatte. Nun standen wir aber auf der Baustelle ohne Materialien da und konnten daher auch nicht arbeiten. Leider war auch die Zeit nicht auf meiner Seite! Schließlich organisierten wir noch Geld aus Deutschland und packten alle kräftig mit an. Täglich kamen mich die Jungs nach der Schule auf der Baustelle besuchen und halfen an den Sonntagen auch beim Streichen. An den Nachtschicht-freien Abenden widmete ich mich meinem kleinen Kunstprojekt im Esszimmer: einer riesigen Weltkarte. Die Idee hierzu kam mir während meiner Zeit mit den Kleinen. Jeden Abend blätterten wir gemeinsam durch den Atlas und betrachteten Landkarten. Bei der gestalterischen Umsetzung bekam ich Unterstützung der Älteren. Als unser Meisterwerk endlich fertig war, verewigten wir uns alle an der Wand. Bis zu meiner Abreise standen Kleine wie Große täglich vor der Wand und diskutierten über die unterschiedlichen Länder. Auch unsere Arbeiter versammelten sich hier und bestaunten unsere riesige Weltkarte.

Unsere Arbeiter waren seit meiner Anwesenheit top motiviert. Ich lernte Fliesenlegen, Wände verputzen und streichen, Türen und Fenster einbauen, Schränke montieren, etc. Aus mir wurde eine richtige kleine Handwerkerin.
Das Schönste an der Arbeit auf der Baustelle war nicht nur der enorme praktische Wissenszuwachs, sondern auch der Austausch mit den Menschen. Alle waren hilfsbereit und die Gespräche beim Mittagessen und dem „Mitternachtsmahl“ ermöglichten mir einen besonderen Blick in die Gesellschaft und Kultur der Region und des Landes. Hatten wir einen großen Etappensieg hinter uns gebracht, kam es schon mal vor, dass wir um drei statt vier Feierabend machten und uns bei Lagerfeuer noch eine Tasse Tee oder selbst gebrautes Honig-Bier gönnten. Einige der Arbeiter brachten zudem Mangos, Bananen oder Avocados aus ihren Gärten mit, die wir uns nach dem Teller Mais und Bohnen teilten. Ich lernte in dieser Zeit genau solche „Kleinigkeiten“ unglaublich zu schätzen. Auf der Erde sitzend, alle gleichermaßen verschwitzt, ungeduscht und müde bauten sich alle verbliebenen Vorurteile ab. Wir diskutierten frei und wurden „ein Team“ mit dem gleichen Ziel: möglichst zügig den Bau abzuschließen. Auch unser Architekt kam trotz Malaria täglich mittags für ein paar Stunden auf der Baustelle vorbei, was mir dann die Möglichkeit gab die restlichen Formalien mit Baubehörden und Ämtern zu klären. Tatsächlich schafften wir es dank unzähliger schlafloser Nächte und vereinten Kräften den Bau erfolgreich voran zu treiben.

Am 15. März war es dann endlich nach 16 Wochen Bauzeit soweit und unsere Jungs zogen in ihr neues Zuhause. Die Freude in den Augen der Kinder an diesem Tag, als sie in die eingerichteten Zimmer kamen, war schlicht unbeschreiblich. Zum ersten Mal: ein eigenes Bett, eine Dusche, Toiletten und Tische zum Essen! Auch eine kleine Bücherecke hatten wir eingerichtet mit Abenteuerromanen und Wissensbüchern, die die Aufmerksamkeit der ganzen Kinder im Dorf auf sich zog. Einige der Jungs konnten ihre Emotionen nicht zurückhalten. Auch wenn sie das Haus in den vergangenen Wochen hatten wachsen sehen, konnten sie es nicht fassen, nun tatsächlich einzuziehen! Ich selbst realisierte an diesem Tag nicht, wie viel wir wirklich geschafft hatten – mein einziger Gedanke war: lasst mich eine Runde schlafen. 

Lange Ruhe hatten wir leider nicht. Seit Beginn des Baus hatten wir immer wieder kleinere Auseinandersetzungen mit einzelnen Gemeindemitgliedern. Auch in der gegründeten CBO befanden sich Mitglieder, ganz wie es unsere Anwältin vorausgesagt hatte, deren Hauptinteresse nicht dem Wohl der Jungs galt, sondern die glaubten, sich durch das Projekt persönlich bereichern zu können. Die CBO fungierte jedoch nur als Trägerverein. Unsere Absicht war und ist, dass die Gemeinde so selbst Projekte initiieren kann und dank der Rechtsform „CBO“ Fördermittel vom Staat erhält. Für das Heim gründeten wir zusätzlich einen Vorstand (in Kenia „Board“ genannt), bestehend aus neun Mitgliedern, denen alle Finanzmittel und Entscheidungen bezüglich des Heims unterliegen. Diese Menschen sind zum großen Teil Lehrer, pensionierte Fachangestellte und haben viel Erfahrung in der Leitung von Institutionen. Sie alle kennen die Jungs und haben ein großes Interesse daran, dass das Heim läuft – unsere Anwältin lobte mich für diesen geschickten Schachzug, der die Verantwortung und Verwaltung der Gelder klar regelt und nahezu kein Raum bietet um Gelder zu veruntreuen.

Dies führte zu großem Frust unter einigen CBO Mitgliedern und brachte so viele Probleme und Komplikationen mit sich, dass sich schließlich die verantwortlichen lokalen und regionalen Behörden in die Verwaltung des Heims integrierten. Daraufhin wurden manche der CBO-Mitglieder ihrer Posten enthoben und klare Regeln aufgestellt, wie das Heim geführt und verwaltet werden soll. Uns als Organisation war und ist es wichtig uns aus solchen Entscheidungen herauszuhalten, da sich das Projekt auch ohne unsere physische Anwesenheit tragen können muss. Die Behörden befassten sich jedoch anstelle von uns intensiv mit der Situation und leiteten entsprechende (rechtliche) Schritte ein.

Mit einem neu zusammengesetzten CBO-Träger, der enger mit dem Board zusammenarbeitet, kann das Projekt nun endlich sein immenses Potential entfalten! Als einziges Waisenhaus in der gesamten Region nimmt es eine wichtige Rolle ein, was letztlich auch der Grund für die großen Bemühungen und Anstrengungen der Behörden ist. Das Einzige, was dem Waisenhaus nun noch fehlt, bevor es registriert werden kann, ist die Umzäunung des Geländes. Hierfür und für vereinzelte kleine Anschaffungen, wie Stühle, Küchenutensilien, etc., versuchen wir zusammen mit dem Board und der CBO lokale und regionale Politiker als Unterstützer zu gewinnen. Nach wochenlangem Auf und Ab entspannte sich die Situation nun endgültig.

Meine sieben Monate in Kenia waren ein Wechselbad der Gefühle und es ist unfassbar viel passiert. Die Entscheidung, meinen Flug letztlich vier Mal zu verschieben und hierzubleiben war nicht leicht, aber wenn ich zurückblicke, war es die richtige Entscheidung nicht abzureisen, bevor das Projekt richtig implementiert war.

Meine Mentorin und Bezugsperson, bei der ich bis zum 23. Dezember gelebt hatte, nannte mich immer „eine wahre Kämpferin“. Kenia hat mich definitiv verändert. Baustelle, miese Priester, Probleme mit unserem Kooperationspartner, der ganze Stress mit dem Architekten, etc. Ich glaube zutiefst an dieses Projekt und an seinen Erfolg. Mit den vielen Ämtern, einem guten Board und einer motivierten CBO hat das Heim endlich den nötigen Rückhalt und die Jungs endlich ein Zuhause. Letztlich haben wir hier in den letzten Monaten aus dem „Nichts“ völlig neue Strukturen geschaffen und Dorfbewohner, die teils weder lesen noch schreiben konnten, mit der Unterstützung der Behörden, für die Arbeit eines Waisenhauses sensibilisiert. Zudem haben wir gemeinsam Langzeitpläne für das Bestehen des Heims entwickelt, Personal eingestellt und am wichtigsten: „ein Haus in ein Zuhause“ verwandelt!

Ich bin sehr dankbar für die großartige und bedingungslose Unterstützung einiger Behördenvertreter, meiner Mentorin, den politischen Machthabern vor Ort, dem Rat anderer Waisenhausverantwortlicher in Kenia, die ich regelmäßig besuchte, unserem Projektpartner und vor allem den wundervollen Board-Mitgliedern. Die Aufs und Abs, die wir zum Wohle unserer Kinder in Kauf nahmen, schweißten uns eng zusammen und ließen Freundschaften entstehen, die auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen basieren. Vielleicht musste die Situation tatsächlich erst richtig schlimm werden, bevor sie richtig gut wurde!

Die letzten Tage mit den Jungs waren fantastisch. Ich wurde am Morgen von klebrigen Küsschen geweckt, wir haben gespielt, getanzt, gekocht und das ganze Haus ordentlich geputzt. Auch wenn ich weder Nahason noch einen der anderen großartigen Jungs in meiner Reisetasche mitnehmen konnte, trage ich sie dennoch in meinem Herzen. Die Liebe und Dankbarkeit, die sie mich über sieben Monate täglich spüren ließen, war jede Herausforderung wert. Mit einem großen Stapel seitenlanger Briefe, in denen sie festhielten, wie sie die Zeit mit mir empfunden haben, machte ich mich auf zum Flughafen. Den ganzen Flug nach Indien standen mir beim Lesen der Zeilen die Tränen in den Augen. Auch heute noch ist es schwer, nicht augenblicklich ein Flugticket zu buchen und zurück zu meinen Chaoten zu reisen. Ich freue mich schon auf meinen nächsten Kenia-Aufenthalt, der sicher nicht lange auf sich warten lassen wird – das nächste Mal aber bitte etwas weniger abenteuerlich! (-: