Projektentwicklung Indien 2015

von Christian Heuser

Die Entscheidung über Weihnachten und Silvester nach Indien zu fliegen und Caroline in unseren vier Projekten zu begleiten fiel relativ spontan, aber ich nehme gleich vorweg: Es war eine sehr gute Entscheidung! Ich konnte mir dadurch einen direkten Eindruck von unseren Projekten verschaffen und bin begeistert von der Arbeit, die wir mit unseren Projektpartner dort leisten! Ich konnte fest stellen, dass unsere Arbeit dort Früchte trägt und wir den Kindern eine echte Chance bieten können, sich eine bessere Zukunft für ihr Leben zu erarbeiten! Auch wenn es sicherlich einige Probleme zu lösen gibt und nicht immer alles so reibungslos läuft, wie man sich es gerne wünschen würde.

Für mich war diese Reise nicht nur die erste für HdM, sondern auch mein erster Aufenthalt in Indien, Asien und einem Entwicklungsland überhaupt. Dank Carolines Erfahrung, für Sie war es die insgesamt sechste Indienreise, ließ sich der Kulturschock ganz gut überwinden. Überraschend war auch, wie wenig anstrengend einem die Arbeit vor Ort vorkommt, obwohl wir einen sehr dicht gepackten Terminplan hatten…das liegt sicher daran, dass man meistens direkt den Lohn für seine Arbeit zurück bekommt: Ein Lachen und ehrliche Dankbarkeit!

Unser Ankunftsflughafen in Indien ist in Chennai, einer Stadt an der Ostküste Indiens, von dort geht es zunächst mit einem Regionalzug zum nächsten großen Bahnhof. Großartiger Start: Mit vollem Gepäck, bei 30 Grad in einem völlig überfülltem Zug: Überbevölkerung hautnah… Zum Glück sind die Menschen hier sehr hilfsbereit und wir schaffen es trotz großem Andrang im Zielbahnhof doch irgendwie aus der Menschenmasse und aus dem Waggon. Wir lösen ein Ticket zu unserer ersten Station in Trichy, dann heisst es zwei Stunden warten am Großbahnhof. Überall stehen, sitzen und liegen Leute, dicht gedrängt. Es stinkt nach einer abscheulichen Mischung aus Urin und chemischem Reinigungsmitteln. Muss das sein, dass hier so perfekt alle Klischees gleich auf einmal erfüllt sein müssen? Während der Wartezeit kommen wir in den Genuss der Indischen Snack-Küche und der geringen Lebenshaltungskosten: sechs Samosas und eine Flasche Wasser für umgerechnet weniger als einen Euro! Vegetarisch, lecker und scharf ist es auch, Indien: Du stinkst, aber ich mag Dich jetzt schon!

Dann kommt unser Zug, wir suchen unsere reservierten Plätze und die erste 4h Zugerfahrung in einem Sleeper-Abteil eines indischen Zuges beginnt. Laut, dreckig, stressig. Ständig kommen Leute, die betteln oder irgendetwas verkaufen wollen. So ziemlich alles wird angeboten, man kann sich mit Getränken, leckeren Snacks und ganzen warmen Mahlzeiten versorgen! Die Mitreisenden im Abteil sind sehr interessiert, man fällt hier schon auf mit weißer Hautfarbe. In Trichy angekommen holt uns unsere Projektpartnerin Schwester Rosy vom Bahnhof mit dem TucTuc, einem offenem dreirädrigem Taxi, ab. Wir sind in dem Gefährt jetzt also Teil des laut hupenden Straßenchaos, auch eine bleibende Erfahrung.

Wir fahren durch eine Wohnsiedlung am Rand der Stadt, die mir sehr nach Slum aussieht. Nur wenige Hütten haben gemauerte Wände, die Dächer bestehen meist aus einem Geflecht aus Naturmaterialien und Plastikmüll. Wie ich später erfahre, ist der "richtige" Slum aber woanders. Am Ende eines mit Schlaglöchern, Ziegen, Hunden und nicht zuletzt mit Menschen gepflasterten Weges kommen wir an eine Kirche und ein großes, schmiedeeisernes Tor. Wir fahren in einen gepflegten Hof, mehrere Gebäude und ein großer Garten befinden sich auf dem Gelände. Wir sind im JMJ - home for the disabled angekommen. Hier wohnen die Schwestern zusammen mit einigen Kindern mit Behinderung, die hier mit Essen, Gesundheitsverpflegung wie Physiotherapie und einem Mindestmaß an Schulbildung versorgt werden. Ausserdem wohnen hier einige Schulmädchen, die meist verwaist sind, oder aus anderen Gründen keinen Platz mehr in ihrer Familie haben. Zusätzlich werden von Schwester Rosy von hier aus die Slumschulen organisiert und verwaltet. Nach der Einquartierung in einem sich gerade im Aufbau befindlichen Altenheim dürfen wir mit den Schwestern zu Abend essen. Fast hätte ich vergessen, dass wir in einer Einrichtung mit katholischen Ordensschwestern sind, ich hätte beinahe während dem obligatorischen Tischgebet das Essen angefangen. Ich lerne in den nächsten Tagen mit der rechten Hand zu essen, es ist meistens ziemlich scharf und mindestens genauso lecker! Danach erlebe ich das erste mal wie es ist, mit kaltem Eimerwasser zu duschen und lerne, dass die Duschbrause deshalb so tief hängt, weil sie in erster Linie oder eigentlich eher ausschliesslich als Klopapierersatz gedacht ist…

Die nächsten Tage werden wir in Trichy bleiben, werden früh geweckt und meist gibt es scharfes Frühstück. Wir lernen die Kinder auf dem Gelände kennen, werden durch die nahe gelegenen Slums geführt, besuchen unsere Patenkinder in der Behindertenschule, verteilen die entwickelten Fotos an die Kids, die bei unserer Fotoaktion mitgemacht haben, und stellen die Patenbriefe zu. Ausserdem kaufen wir die ersten 200 Hygienepakete und verteilen diese an die Kinder in den insgesamt drei Slumschulen. Davor erklären wir ihnen auch warum es wichtig ist auf Hygiene zu achten und lesen ihnen die internationalen Kinderrechte vor. Letzter Punkt bleibt mir besonders positiv in Erinnerung, weil ich das Gefühl habe, das unsere Message ankommt! Caro sagt: "Niemand hat das Recht, Euch zu schlagen, egal aus welchem Grund!". Unsere HelferInnen übersetzen und man sieht in leuchtende Kinderaugen, die das eben gesagte einzuordnen versuchen.

Am letzten Tag gibt es eine kleine Abschieds- und Weihnachtsfeier. Hier erlebe ich zum ersten mal die hier übliche Kuchenzeremonie: Wir schneiden den Kuchen an und "füttern" anschließend alle Kinder mit einem Stück Kuchen. Wir tanzen mit Schwester Rosy und den Kids und abschließend werden kleine Geschenke ausgetauscht. Wir müssen dringend ins Bett, werden am nächsten morgen um vier Uhr vom TucTuc zum Bahnhof abgeholt.

Nach kurzer Nacht und 17-stündiger Zugfahrt kommen wir in Mangalore, an der West-Küste Indiens, an. Ein Bruder und der Sohn unseres Projektpartners Sadashiv holen uns am Bahnhof ab und nach zwei Stunden im Auto kommen wir in Sullia an und werden von Sadashiv begrüßt. Hier werden wir die nächsten Tage in seinem Haus wohnen, das mitten in einem grünen Dschungel am Rande von Sullia liegt, und uns in erster Linie um den Schulbau kümmern.

Ausserdem besuchen wir die Sandeep-Special-School und verteilen dort Patenbriefe sowie vor Ort gekaufte Hygienebeutel und lassen Sadashiv zusätzlich noch Pakete da, die er die nächsten Tage an die Kinder verteilt, die derzeit noch keinen Platz in der kleinen Schule haben. Trotz unterschiedlichsten Beeinträchtigungen körperlicher und geistiger Art ist die Freude der Kinder über die Geschenke deutlich spürbar.

Um in Zukunft mehr Kindern mit Behinderung einen Schulbesuch zu ermöglichen, planen wir hier seit einiger Zeit mit Sadashiv zusammen den Bau einer Schule, in der bis zu 70 Kinder unterrichtet werden können. Er hat, um dies zu ermöglichen, eine nicht-Regierungsorganisation (NGO) gegründet, mit deren Mitgliedern wir uns zu einem Treffen verabredet haben, um das weitere Vorgehen in diesem Projekt zu besprechen. Dieser NGO gehören insgesamt sieben Freunde und Geschäftspartner von Sadashiv an, unter anderem seine Frau Harini. Nach dem Kennenlernen in einem Cafe fahren wir mit den Mitgliedern zu verschiedenen Grundstücken in und um Sullia, die zum Verkauf stehen und für unseren Schulbau in Frage kommen. Ausserdem treffen wir den Architekten und besprechen mit ihm mögliche Baupläne für die Schule. Insgesamt ist die Stimmung positiv, dass wir bald mit dem Schulbau beginnen können, doch selbst optimistische Schätzungen gehen von einem weiteren Jahr aus, bis die Schule endlich stehen wird. Neben der komplizierten und sich ständig durch neue Gesetze ändernde Vergabepraxis für Bauland in Indien ist momentan die größte Sorge, dass sich das FCRA-Zertifikat noch eine Weile hinziehen könnte. Dieses Zertifikat braucht in Indien eine NGO, um offiziell Geld aus dem Ausland annehmen zu dürfen. Wir verlassen Sullia mit dem Gefühl, dass unser Traum einer Schule mit unseren hochmotivierten Projektpartnern tatsächlich bald Gestalt annehmen wird!

Passend zum Heiligabend am 24. beginnen wir eine 24-stündige Zugfahrt wieder an die Ostküste nach Tenali, nordöstlich von Chennai. Wie man sich vorstellen kann, war dies mit Abstand das außergewöhnlichste Weihnachtsfest, das ich bisher erleben durfte!

Ziemlich zerknautscht kommen wir am 1. Weihnachtsfeiertag an, Caroline geht direkt ins Frauenhaus nach Swadhar, wo etwa 170 Mädchen und junge Frauen untergebracht sind. Ausser der geschützten Unterkunft erhalten die jungen Menschen gesunde Ernährung, medizinische Versorgung und ein tolles Gemeinschaftsgefühl. Den Mädchen wird eine Schulbildung, den Älteren je nach Fähigkeiten eine Ausbildung in Hausarbeiten oder den Besuch einer weiterführenden Schule ermöglicht. Da dort nur Jungs unter 6 Jahren übernachten dürfen und ich leicht über dieser Grenze liege, werde ich bei einer befreundeten Familie unterkommen, bei Barath und seiner Mutter Victoria. Er holt mich mit dem Roller vom Bahnhof ab und nach einer kurzen (Eimer-)Dusche fahre ich auch zum Frauenhaus, wo ich von den Mädchen und unserer Projektpartnerin, Schwester Nirmala, sehr freundlich empfangen werde.

Leider habe ich mich mir im Zug wohl eine Erkältung geholt und so werde ich am nächsten Tag bis 13 Uhr ausschlafen und dann nach Swadhar fahren, nur um mich dort ebenfalls wieder hin zu legen. In der Zwischenzeit besorgen Caroline, Barath und sein Cousin Reis, Linsen, Schulranzen, Stifte und Hygienebeutel. Ein Glück war ich nicht mit dabei, das Auto ist randvoll mit den Einkäufen! Am nächsten Tag geht es mir dank der Ruhepause besser und ich kann wieder mit anpacken. Wir befüllen die Schulranzen mit den anderen Einkäufen, ausserdem führen uns die Mädchen verschiedene Tänze vor, die sie für Weihnachten eingeübt haben und am Abend gibt es wieder leckeren Kuchen.

Zwei Tage sind für unser Dorfprojekt eingeplant, wo wir Kinder in ländlichen Gegenden den Schulbesuch ermöglichen. Schwester Sarita und ein Geländewagen voller Helferinnen kommen uns nach Guntur abholen. Dort fahren wir an einem Tag in die rundum liegenden Dörfer an öffentliche Plätze und verteilen an die Schüler die Patenbriefe und Fotos, danach die prall gefüllten Rucksäcke und schenken damit sichtlich Freude. An dem anderen Tag sind wir auf dem JMJ-Gelände in Guntur, diesmal kommen die Schulkinder gruppenweise zu uns. Die beiden Patenkinder aus Swadhar, Joshna und Giatry, die mittlerweile auf dem College studieren, sind uns dabei eine große Hilfe. Nach einem langen Arbeitstag sind wir noch mit der Oberschwester der Provinz Guntur, Schwester Regina, zum Abendessen verabredet, um mit ihr über unsere Projektarbeit zu reden. Sie zeigt sich begeistert von unserer Arbeit und scheint uns in allen Belangen unterstützen zu wollen und wir werden zum Abschied mit einem "Shawl", einem sehr breiten Schal, geehrt.

Die nächsten Tage verbringen wir über Silvester wieder in Tenali und lassen es, auch weil Caroline sich mittlerweile auch erkältet hat, etwas langsamer angehen. Wir schießen sehr viele Fotos mit den Kids, spielen mit ihnen und Schwester Nirmala informiert uns über die Fortschritte der einzelnen Patenkinder. Wir beschließen für die kalten Monate den Bedarf an 30 Pullovern zu decken und den Kauf eines neuen Wasseraufbereiters für das Frauenhaus zu finanzieren, der vor kurzem seine Arbeit eingestellt hat. Ausserdem hilft uns Barath dabei, ein Treffen mit dem Bürgermeister eines benachbarten Slums zu arrangieren, dem wir Reis, Linsen und Hygienebeutel für 100 Personen überreichen, die er dann an die bedürftigsten Familien in den nächsten Tagen verteilen wird. Nach einer sehr langen Silvesternacht, die sich den Superlativ "außergewöhnlichstes Silvester" verdient hat (die Katholiken feiern hier in Tenali Silvester mit einem 4h Gottesdienst von 10Uhr Abends bis 2 Uhr morgens), verlassen wir Swadhar nach einer erneuten Kuchenzeremonie. Der Abschied fällt schwer, besonders weil sämtliche Mädchen wie Mitarbeiter des Frauenhauses sich vor dem Heim versammelt haben und uns noch lange auf unserem Weg zur Strasse nachsehen.

Wir besuchen noch eine Hochzeit eines Freundes von Caroline, kurz danach fliegt meine erstklassige Reiseführerin wieder zurück nach Deutschland, während ich auf mich allein gestellt noch eine Woche Urlaub mache und vor allem die Strände Indiens auf eigene Faust erkunde. Ich merke sofort, dass ich die vielen Erlebnisse der letzten Wochen erst noch verdauen muss und werde erstmal wieder krank. Aber ich genieße den Luxus, in einer Ferienanlage an einem Strand habe ich ein "european style"-Klo (aus Keramik, zum drauf sitzen!) und das erste mal in Indien relativ stabiles Internet!

Gerade wieder in Deutschland angekommen, ist mir schon jetzt klar: Ich muss unbedingt wieder einmal nach Indien! Ich habe dort unglaublich gastfreundliche und hilfsbereite, aber ebenso bedürftige Menschen am Rande der Gesellschaft erleben dürfen. Durch ein bisschen Hilfe und Zuwendung wird unseren Kindern die Chance gegeben, ihr Leben durch eigene Anstrengungen in ein menschenwürdiges zu verwandelt. Ich bin sehr dankbar für diese Erfahrung und bin von unserem Verein überzeugter denn je!